Mittwoch, der 16.09.2020

Heute Abend sitze ich mit Kim auf einer kuschligen Decke, die ich mir nachher über meine Beine lege, weil ich eine kurze Hose anhabe und es kalt geworden ist. Auf der Picknickdecke liegt eine Lichterkette, die jemand mitgebracht hat, zwei zu grüne Bananen, eine Gurke, Hummus, Baguette, glutenfreie Chips. Es läuft luxemburgischer Rap, später die Musik einer kleinen Gruppe aus Saarbrücken. Das Mädchen links von mir spricht Luxemburgisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Portugiesisch und hat Gras in einer Kosmetikdose, in der davor eine Maske war. Der Typ gegenüber unterhält sich mit einem anderen auf Luxemburgisch, dabei kommt er aus dem Saarland. Anscheinend bandelt er mit einer Dozentin an, eine die Methodologie de la Recherche unterrichtet. Auf den Decken sitzen Psychologie-Studenten aus dem 3. Semester, Kim und ich und dann noch ein Mädchen, das European Studies mit Schwerpunkt Anglistik studiert.

Auf diesen Decken in diesem Park von Esch-sur-Alzette, direkt neben dem Bahnhof, sitzen wir, weil Kim und ich heute eigentlich an den See fahren wollten. Jakob meinte, dass er sowieso mit Freunden zu einem fahren wollte und wir gerne mitkommen könnten. Problem: Blaualgen, die Bindehautentzündungen verursachen, der Baggersee ist geschlossen. Er sagt, wir können gerne in den Park mitkommen. Kim ist unsicher, ich sage, warum nicht. Also sitzen wir da.

In den letzten Tagen merke ich, wie ich ein bisschen Heimweh habe. Heimweh danach, dass mich die Leute um mich herum kennen, dass sie wissen wer ich bin, worauf ich Lust habe, was ich im Leben will. Leute, die wissen, bei welchen Witzen ich lache und bei welchen nicht, was für Musik ich höre und dass ich Kräutertees und Rohkost nicht so gerne mag. Vera meinte, dass die meisten Studenten froh darüber sind, dass sie sich ihr Image neu aufbauen können. Ich mochte mein Image sehr gerne und es ist anstrengend, es wieder neu zu konstruieren. Seit Freitag mache ich durchgehend Tag für Tag etwas mit Fremden und ich tingele so durch die Reihen. Ich möchte ankommen.

In meinem Zimmer bin ich bisher angekommen, in den hier gesprochenen Sprachen bin ich angekommen und jetzt möchte ich bei den Menschen ankommen. Manchmal kann die Zeit aber mehr tun als ich, das versucht Vera mir klarzumachen. „Ich glaube, Zeit macht da mehr, als man selbst machen kann.“ Diesen schlauen Satz hat Vera gesagt. Die Zeit kann für mich gerade mehr tun, als ich selbst.

Ich telefoniere und telefoniere, von den zehn Briefmarken sind schon fünf Stück weg, eine hat Kim sich für die Geburtstagsglückwünsche an ihren Freund geschnappt, eine war für ein Luxemburger Amt, die restlichen drei sind Briefe an Freunde, um ihnen meine Adresse zu schicken, damit sie mir auch Briefe schicken können. Es fühlt sich aber anders an, mit den Briefen. Zuhause haben sie mir meine Eltern auf den Schreibtisch gelegt, immer wenn etwas ankam und immer habe ich mich über sie gefreut. Nun muss ich den Schlüssel von der Tür der 6-er WG nehmen, zwei Stockwerke nach unten laufen und den Briefkasten schauen. Beim letzten Mal war er leer, davor war nur ein Brief von der Frankfurter Sparkasse darin.

Schreibt mir Briefe.

In der Küche stehen fünf rote Stühle. Wenn man das Fenster aufmacht, sich ein bisschen nach vorne beugt und nach unten schaut, entdeckt man den sechsten Stuhl im Garten.

Am Dienstag höre ich eine Vorlesung an. Die Dozentin hat uns die Folien geschickt und die Stunde eingesprochen, ich schreibe auf die Folien und schreibe der Dozentin eine Mail mit zwei Fragen, nachdem ich mir ein bisschen zögere. Sie antwortet recht schnell, sie freut sich und bedankt sich für meine Teilnahme. Ich muss ein bisschen lächeln und ich freue mich auf das Uni-Leben, obwohl es so merkwürdig ausfällt dieses Jahr.

Alle Vorlesungen werden online übertragen, ein paar vorher hochgeladen wie die für Allgemeine Psychologie. Für die Vorlesungen gibt es eine begrenzte Anzahl an Plätzen vor Ort, für die man sich eintragen muss. Während der Online-Übertragen von "Initiation à la Méthodologie de la Recherche" sitze ich am Küchentisch und schäle entspannt Kartoffeln. Die nächsten drei Tage habe ich noch etwas von dem Kartoffelgratin.

Ich begegne Gesichtern, die um mich herumwirbeln und Menschen, die versuchen, andere zu finden und merke, wie nicht merkwürdig es ist, auf andere zuzugehen.

Am ersten Tag können wir uns auf zufällige Räume aufteilen, während die andere Hälfte des Jahrgangs im Hörsaal eine Einführungsvorlesung bekommt. In meinem Raum begrüßen uns Jo und eine andere. Jo erzählt von ihrem besten Freund Felix, mit dem sie sich andauernd in Vorlesungen mit Fragen meldet.

Als Kim und ich nun auf der Kuscheldecke sitzen, sitzt mir Felix gegenüber mit einem süffisanten Lächeln und ich sehe diesen offenen Menschen, dem es leicht fällt, Akzente zu imitieren und herum zu witzeln. Ich sehe Jo in den Erzählungen ihrer Freunde. Anfangs heißt es, sie soll noch kommen, danach heißt es, sie kuschelt noch mit irgendwem. Bei den Regentropfen ganz verständlich, die sich an Haar und Kuscheldecke schmiegen, die ich mir über die Beine geworfen habe.

Jakob erzählt, dass Helena und er mal eine Blindverkostung durchgeführt haben, um herauszufinden, welche Paprikafarbe am besten schmeckt. Empirisch belegt wurde gelb als beste Paprikasorte – besser als rote, über grün müsse man ja gar nicht reden. Jakob wirft Ideen für eine Party in die Runde, 80er zum Beispiel, und irgendwer erzählt, dass Jo gerne eine Gemüseparty feiern würde. Als es mir zu kalt wird und Kim und ich gehen, werfe ich in die Runde, dass ich gerne zu einer Gemüseparty kommen würde und dass ich dann als gelbe Paprika komme.

Mir ist gerade erst eingefallen, dass ich keine Rohkost mag. Ich glaube, so richtig gut aufgehoben wäre ich auf einer Gemüseparty also nicht, eher hungrig, aber ich fühle mich aufgehoben in der Idee, eine merkwürdige Party zu feiern und Gemüsesongs zu hören. Die Red Hot Chili Peppers könnten auf so einer Party laufen. Eine Party, die nicht per se cool ist, sondern cool ist, weil sie jemand, Jo zum Beispiel, mit Herz cool findet.

Der Abend hat mir gut getan, weil er mir zeigt, dass ich noch da ankommen werde und dort ankommen kann, wo die Menschen auf dieser Picknickdecke jetzt sind. Ich werde in einem Kreis sitzen von Menschen, bei denen ich mich aufgehoben fühle, über gelbe Paprikas reden und Gemüsepartys planen kann. Ich werde dann aber ganz andere Feiern planen und ganze andere Dinge diskutieren, aber mich genau so fühlen, wie sich die Menschen heute Abend gefühlt haben.

Das wird. Mit der Zeit.


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