Freitag, der 18.09.2020

Als ich nach Hause komme, steht Chili sin Carne und ein bisschen Reis auf dem Herd. Kim hat den Kühlschrank zugemacht, den ich vor vier Stunden offen stehen gelassen habe. Ich stelle die Chili sin Carne und den Reis in den Kühlschrank. Kim hat mir Brillenputztücher aus dem Supermarkt mitgebracht und ich freue mich, weil ich zwischen Deodaranten und Wäschepulver in den Supermärkten keine gefunden habe. Ich habe mich auch nicht getraut zu fragen.

Elf Uhr in Luxemburg fühlt sich an wie zwei Uhr morgens in Frankfurt. Die Straßen sind leer und man fragt sich, wie man nach Hause kommt. Eine Frau führt ihren Hund in Jogginganzug aus. Selbst um zwei Uhr morgens findet man in Frankfurt in der U-Bahn mehr Gesellschaft als hier. Eigentlich sieht man in Frankfurt um zwei in der U-Bahn mehr Menschen als an einem Sonntagmorgen um neun.

Am Bahnhof in Luxemburg frage ich eine Gruppe von drei alten Damen, einen Mann in Anzug und Krawatte und zwei Security-Leute nach dem Bussteig 12. Keiner weiß so richtig wovon ich rede und ich finde den Bussteig hinter einer Baustelle.

„Gibt es etwas an deinem Körper, weswegen du dir unsicher bist?“
Diese Frage stellt mir Laura, während wir beide einen Latte Macchiato trinken. Später habe ich Durchfall und beschließe, dass Koffein nichts für mich ist. Das Gespräch war trotzdem gut. Wir sprechen über Alltagsrassismus und unsere Wurzeln. Lauras Mutter kommt aus Indonesien und ihr Vater aus Deutschland.

An der Ampel vor der Philharmonie, nachdem das Konzert vorbei ist, stehe ich neben einem Mädchen mit zwei Uni Luxemburg Buttons auf ihrem Rucksack. Sie kommt auf Bulgarien und studiert Germanistik. Das Einzige, was ich auf Bulgarisch sagen kann, ist ein heftiges Schimpfwort. Wir treffen auf einen jungen Mann mit Koffer und Pferdeschwanz. Er streckt mir seine Hand hin. Auch aus Bulgarien, sie kennen sich aus der ersten Klasse. Er studiert in Heidelberg und wenn er mir gesagt hätte, er käme aus Deutschland, hätte ich ihm aufs Wort geglaubt. Nur sein ab und an gerolltes „r“ verrät ihn.

In der Philharmonie sitze ich in der ersten Reihe eines Balkons und es erstaunt mich, wie gleich Konzerthallen aussehen. Glänzende Orgelpfeifen, Wände und Bühne aus Holz. Beim dritten Stück fange ich an zu weinen, weil ich gerne mit jemandem hier wäre, anstatt alleine zu sein und weil ich gerne Musik machen und daran teilhaben würde. Ich weine ein bisschen der Musik in Frankfurt hinterher. Eine Gitarrentasche auf dem Rücken, aufs Fahrrad steigen, in den Park fahren und dann einen Keks im Mund haben, während ich zu Veronikas Stimme eine Melodie summe und wir auf meiner orange-karierten Picknickdecke sitzen. In Veronikas Gitarrentasche ist vorne immer noch ein Kranz aus vertrockneten Gänseblümchen. Im Chor lauschen zu dürfen, wie die eigene Stimme sich an den anderen reibt, mit ihnen im Einklang ist oder eine Harmonie bildet. Neben Vera sitzen, während wir uns nach vorne lehnen und Hilary Hahn fasziniert zuhören. Léas stetigem Wortrausch zu klassischer Musik aufsaugen zu dürfen. Das vermisse ich alles.

Ich frage die Frau rechts neben mir nach einem Taschentuch, das französische Wort für Taschentuch braucht eine Sekunde, bis es in meinem Kopf auftaucht. Sie gibt mir eines. Ich putze mir während des Applauses die Nase und frage später nach einem weiteren. Sie hält mir widerwillig eine Packung hin, in der sich nur noch eines befindet. Ich entschuldige mich und es tut ein bisschen weh, ihr Kopfschütteln und ihr Gesichtsausdruck.

Ich putze mir die Nase und weiß nicht, warum ich nicht so richtig über die Musik hier staunen kann. Ich putze mir die Nase mit einem widerwilligen Taschentuch und das Heimweh bricht über mich zusammen.

Ich beobachte die Musiker, auf einem Kontrabass ist anstatt einer gewundenen Schnecke ein geschnitzter Kopf. Der Cellist, der am nächsten am Dirigenten sitzt, sieht aus, als könnte er ein guter Opa sein und als könnte er nach dem Cello-Spielen besonders gut Gute-Nacht-Geschichten vorlesen. Ich achte an diesem Abend viel auf das Fagott, weil es mich an Greta erinnert. Auch ein bisschen mehr auf die Bratschen, weil ich weiß, dass Franzi Bratsche spielt.

Beethoven bringt mich mit seiner zweiten Sinfonie zum Lächeln, zum Staunen, zum Tanzen-Wollen. Trotzdem sind meine Augen verklebt von vertrockneten Tränen.

Ich weiß nicht, ob ich heute Abend irgendwo angekommen bin. In diesem bizarren Studentenwohnheim in Luxemburg. Das Chili sin Carne hat gut getan, auch wenn ich nichts davon gegessen habe. Die Tatsache, dass es da war und Kim es für mich stehen gelassen hat. Der geschlossene Kühlschrank. Léas Stimme am Telefon. Der Busfahrer, den ich nach dem Weg frage und der einen anderen Bus anblinkt, in den ich dann einsteige. Der Mann mit dem Hut, der mir „une bonne soirée“ wünscht und mir den Weg zum Bahnhof beschreibt. Die geputzte Brille.

Vor allem: Der Laptop auf dem Schreibtisch vor der Pflanze und dem Bild an der Wand.
Worte, Momente, Gedankensprünge einfangen.